Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen Mainz-Wiesbaden

Vermächtnis, Gedenken und Mahnung, aufgeschrieben für alle,
die nie einen Krieg erleben mussten

76 Jahre liegt das Ende der schrecklichsten menschengemachen Katastrophe in Europa zurück, und die sogenannte Erlebnisgeneration schwindet dahin. – Die Jungen kennen Kriege nur aus dem Fernsehen, da sind die Grausamkeiten weit weg, bedrohen andere, die Bilder können ausgeblendet und verdrängt werden. – Mit Beispielen aus meiner Familie möchte ich erzählen, wie Kriege in allen Facetten und Spätfolgen sich auf ihr Dasein auswirkten und teilweise Existenzen vollkommen ruinierten. – Die Schicksale von Bewohnern aus Mitteldeutschland ähneln sicher Ereignissen und Tragödien, die sich an anderen Orten zutrugen. Sie sollten im Gedächtnis bleiben und Anlass geben, ein Umdenken einzuleiten, dass alle Kriege als unmoralisch und verbrecherisch anprangert, auch weil Kriege generationsübergreifend die Seelen der Opfer lebenslang schädigen.

Hermann, mein Großvater mütterlicherseits, wurde im 1. Weltkrieg bei Verdun so schwer verwundet, dass er einen Herzschaden erlitt, an dem er mit 30 Jahren verstarb. Er hinterließ ein fünfjähriges Töchterchen, Charlotte, meine Mutter, die als Halbwaise bei den Großeltern aufwuchs, weil die Mutter, Gustchen, den Lebensunterhalt verdienen musste. – Charlotte wuchs in der Nazizeit heran, war der Indoktrination wie alle Jugendlichen massiv ausgesetzt. Geködert mit vielfältigen Freizeitangeboten, durfte sie von Erfurt ins Riesengebirge reisen und dort im Landjahr auf Bauernhöfen Tiere versorgen und bei der Ernte helfen. – Volkstänze wurden erlernt und Volkslieder gezielt missbraucht, um eine tapfere, kriegsbereite Jugend heranzuziehen, die jeden Morgen beim Fahnenappell auf Hitler eingeschworen wurde. – Aber Charlotte durchschaute die Strategie und erkannte das Ziel. Ich verdanke ihr einen großen Volksliederschatz, aber auch die Strophe aus einem Lied, das die Kinder zu Judenhass anstacheln sollte. „Köpfe rollen, Juden heulen, und SA marschiert.“

Jedes Jahr durfte Charlotte vier Wochen mit anderen Waisenkindern an die Nordsee nach Amrum in ein Kinderheim reisen und lernte dort Ilse aus Mainz kennen, die, obwohl „Vierteljüdin“ im damaligen Jargon, merkwürdigerweise auch verreisen durfte.

Im Jahr 1939 heiratete Charlotte meinen über 20 Jahre älteren Vater Armin. Auch Ilse heiratete einen viel älteren Mann. – Die Jungen waren und blieben oft im Krieg, das Schicksal einer ganzen Männergeneration. - Armin, Pfarrersohn, arbeitete im Reichsnährstand bei Raiffeisen und versuchte lange den passiven Widerstand. Meine Taufe wurde heimlich vorgenommen, aber der Druck auf Armin verstärkte sich zunehmend. Um seine Position nicht zu verlieren, trat er schließlich kurz vor Kriegsbeginn in die NSDAP ein.

Meine erste Erinnerung an den Krieg sind Sirenengeheul, nächtliches Aus-dem-Schlaf-gerissen-und-in-den-Keller-geschleppt-Werden. Eine Nachbarin, die sich in ihrem Schrecken das Nachthemd vom Leib gezogen hatte und nackt in der Tür stand. – Nacht für Nacht Fliegeralarm, Zittern und Angst. – Eine unverständliche Abstumpfung, die langsam einsetzte. Man ging nicht mehr in den Schutzraum. „Es wird uns schon nicht treffen“, obwohl bereits in der Nähe ein Häuserblock verwüstet worden und viele Bewohner darunter verschüttet waren. – Deshalb zogen wir zu Verwandten aufs Land bei Weimar. Dort wohnten im Haus von Onkel Edgar, einem Bruder meines Vaters, bereits Evakuierte aus Saarbrücken. – Die Brüder meines Vaters betrieben eine kleine Holzfabrik, in der Bienenwohnungen hergestellt wurden, in der etliche Dorfbewohner einen Job hatten. – Waren wir hier sicher vor Bomben? Es schien erst so. – Aber dann auf Spaziergängen durch die Felder nahten Tiefflieger, die auf uns schossen. Wir versteckten uns in Hausten [auf dem Feld zusammengestellter Heuhaufen, Red.] und kamen davon. – An einem sonnigen Frühlingstag liefen wir Kinder allein aus dem Dorf, um Veilchen zu suchen. Plötzlich ertönte ein lautes Donnern, der Boden unter uns erbebte. Wir legten uns flach hin. Dann plötzlich Ruhe, vom Himmel stürzte ein Flugzeug. Ein großer Mann in einem glänzenden Anzug lief auf uns zu, nahm mich auf den Arm und ging mit uns Richtung Dorf, aus dem uns schon unsere besorgten Mütter entgegenkamen. – Dorfbewohner stellten den Mann an eine Mauer und bewachten ihn. Es war ein kanadischer Pilot, der wohl nach Buchenwald gebracht wurde. Jahrzehnte später fand ich dort einen Gedenkstein für abgeschossene Kanadier. Vermutlich hat er in Buchenwald sein Leben verloren.

Die Nacht, als die Amis unser Dorf erobern wollten, wird mir immer im Gedächtnis bleiben. – Schon mittags sahen wir Rauch im Nachbardorf aufsteigen, Höfe brannten. Die Amis waren da. - Betten wurden in den Keller gebracht, wir wollten die Nacht dort verbringen, weil man befürchtete, die Fabrik und das gelagerte Holz würden durch Beschuss in Flammen aufgehen, die dann aufs Wohnhaus übergreifen. Mit einem Rucksack lag ich in einem Gitterbett. Es krachte stundenlang und dumpfes Dröhnen rollender Panzer, die sich näherten, war zu hören. Als der Morgen graute, war nichts geschehen. Die Panzerinsassen hatten nicht gewagt, die hölzerne Ilmbrücke zu überrollen und stattdessen Ulrichshalben angegriffen und in Brand gesetzt. Eine Gruppe ganz junger Soldaten (vermutlich Hitlerjungen) hatten den aussichtlosen Versuch gewagt, das Dorf zu verteidigen. Alle fanden den Tod, lagen in den Straßen zur Abschreckung der Bevölkerung und durften nicht beerdigt werden. – So sah ich bereits mit fünf Jahren tote Menschen.

Wir kehrten nach Erfurt zurück. Unser Haus stand noch, nur das Dach war abgedeckt und Fenster zerbrochen durch den Luftdruck zerberstender Bomben. Auch bei uns wohnte in der Mansarde eine evakuierte Familie aus dem Saarland, und bald beschlagnahmten sowjetische Soldaten einen Teil unseres Hauses. (Die Amis hatten Thüringen verlassen.) Es waren freundliche Männer, die meiner Schwester Elke und mir Süßigkeiten schenkten. Charlotte musste ihre Uniformen sauber halten, dafür brachten sie uns Essen mit. Es herrschte Hungersnot. Nur auf Lebensmittelmarken konnte das Nötigste gekauft werden. Das Brüderchen meiner Freundin verhungerte, weil keine Milch für das Baby da war. – Die Sowjetsoldaten in unserer Wohnung feierten Nacht für Nacht den Sieg über „Gitler“. Wodka floss in Strömen. Meine Eltern mussten mitfeiern und Armin auf dem Klavier Tänze spielen. Nach sieben Monaten zogen sie ab, und in der sowjetisch besetzten Zone etablierte sich ein Kommunismus in unedler, menschenverachtender Weise. – Die KZs wurden als „Speziallager“ für Nazis und andere Missliebige weitergeführt. Edgar wurde inhaftiert, die Fabrik enteignet. Acht Jahre verbrachte er ohne Gerichtsverhandlung in etlichen Speziallagern. Die Existenzgrundlage für die Großfamilie war vernichtet. Alle zogen in den Westen. – Auch Armin sollte ins Gefängnis. Zuerst musste er seinen Nachfolger bei Raiffeisen einarbeiten. Ein guter (kommunistischer) Freund riet ihm zur Flucht. – Charlotte wurde immer wieder von der Polizei abgeholt und aufgefordert, ihren Mann zur Rückkehr zu bewegen. – Ein Jahr später flüchtete sie mit uns Kindern nachts durch den Thüringer Wald. Am Morgen sahen wir, wie Amerikaner Flüchtlinge, die sie nachts gefangen hatten, den Sowjetsoldaten auslieferten. – Wir hatten Glück gehabt und fuhren in den Westerwald, wo Armin bei Raiffeisen wieder eine Stelle gefunden hatte. – Elke und ich verbrachten zwei Monate in einem Waisenhaus bei den „Armen Dienstmägden Jesu Christi“, weil  meine Eltern nur ein einziges möbliertes Zimmer hatten. – Nach  etlichen Umzügen landeten wir 1955 in Mainz, wo es ein Wiedersehen für Charlotte mit ihrer Freundin Ilse gab. 1959 durfte Oma Gustchen aus Erfurt zu uns ausreisen. Die DDR hatte eine Rentnerin weniger zu versorgen.
Dann das denkwürdige Jahr 1989, die Wiedervereinigung. Charlotte, Armin und Gustchen erlebten es nicht mehr. Wir reisten in meine alte Heimat, und einen Antrag auf Rückgabe unseres Elternhauses in Erfurt wurde gestellt. Nach viel Bürokratie, Schreibereien und Zahlungen bekamen Elke und ich das Haus zurück. Vier Jahre lang kassierte eine unbekannte Behörde die Miete, ließ aber keine Renovierungen vornehmen. – Schweren Herzens verkauften wir unser Elternhaus an die Bewohner, weil wir jetzt hier verwurzelt waren. Aber der Kontakt zu ihnen und die Verbindung zu Thüringen werden immer bleiben.

Uta Binz   (2021)

Vermächtnis, Gedenken und Mahnung, aufgeschrieben für alle, die nie einen Krieg erleben mussten
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Letztes Update: 24.03.2021, 13:20 Uhr