Aktuell > Lebenslaute > Rede T Schwoerer
Liebe Freundinnen und Freunde, ich freue mich sehr, zu euch zu sprechen, nach der beeindruckenden Demo in Wiesbaden gegen Mittelstreckenwaffen am 29. März und dem hiesigen Ostermarsch. Ich freue mich darüber auch als seit Jahrzehnten dilettierender Cello-Spieler, der Musik im Allgemeinen und die Klassik im Besonderen liebt.
Wenn wir uns hier versammeln, gedenken wir zunächst der restlosen Zerstörung von Mainz-Kastel im 2. Weltkrieg durch Bombardierungen, die mit dem Erstickungstod in Schutzbunkern einherging. Mit dem Ortsvorsteher Hartmut Bohrer fordern wir die Schließung des mitten im Wohngebiet liegenden Militärgeländes des US-Raketenbefehlskommandos – als geradezu magnetischer Anziehungspunkt für Präventivangriffe oder Zweitschläge aus Russland. Die Bundesregierung begründet die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen ab 2026 mit einer „Fähigkeitslücke“ des Westens. Das überzeugt deshalb nicht, weil die Luft- und Seestreitkräfte der NATO den russischen Kurz- und Mittelstreckenwaffen weit überlegen sind. Vielmehr kann ein Angriff mit den geplanten landgestützten US-Waffen unbemerkt vorbereitet, überraschend (mit stark verkürzter Vorwarnzeit) und präzise durchgeführt und kaum abgefangen werden. Die geplanten US-Marschflugkörper fliegen niedrig, unter dem Radar, und die Hyperschallwaffen besonders schnell. In beiden Fällen käme ein Angriff auf Moskau oder andere Ziele überraschend.
Dem Argument, wir müssten uns verteidigen, wir müssten Russland abschrecken, ist zu erwidern: Es gibt schon Waffen, die Russland in 20 Minuten erreichen. Warum müssen es ab 2026 10 Minuten werden?
Wir in Deutschland sind durch die Stationierung alleiniges Ziel eines potenziellen Gegenschlags. Sie wäre ein Sargnagel für die Rüstungskontrolle-und Vereinbarungen wie den New-START-Vertrag. Daher ist sie eine Bedrohung für den Frieden in West- und Mitteleuropa und muss gestoppt werden!
Nötig sind Initiativen zur Abrüstung aller Mittelstreckenwaffen in Europa – das schließt die russischen Waffen ein. Wir werden die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen nur verhindern, wenn wir explizit sagen, dass wir auch die russischen ablehnen. Denn für unsere Adressat*innen ist diese Bedrohung präsent durch die täglichen Einschläge in der Ukraine und die Tatsache, dass die Hyperschallrakete Oreschnik uns erreichen kann.
Und anders als es im Aufruf steht, wurde die Oreschnik nicht als Reaktion auf die Stationierung von US-Raketen, sondern gegen die Ukraine eingesetzt.Hinzu kommt, dass Präsident Putin im November sagte, der Einsatz der Oreschnik gegen eine ukrainische Rüstungsfabrik in Dnipro sei Zitat „in diesem Fall“ ohne Atomsprengkopf erfolgt. Der Kommandeur der strategischen Streitkräfte Russlands ergänzte, ein massenhafter Einsatz dieser und anderer hochpräziser Mittelstreckenwaffen, die Russland entwickelt oder bereits stationiert, könnte schon mit konventionellen Sprengköpfen verbunkerte oder großflächige Ziele zerstören und damit eine strategische Wirkung erzielen, Zitat „vergleichbar dem Einsatz von Atomwaffen“.
Das schreckliche Szenario lautet: Eine Seite schießt Mittelstreckenwaffen ab, als (Präventiv-)Angriff oder weil ein Manöver der Gegenseite falsch interpretiert wird. Die Gegenseite kann sie nicht abfangen und schießt ihrerseits Mittelstreckenwaffen ab. Z.B. fliegen russische Waffen nach Mainz-Kastel, weil hier seit gut drei Jahren die Multi-Domain Task Force und das 56. Artilleriekommando untergebracht sind, und nach Grafenwöhr als Stationierungsort.
So sieht die Sicherheit aus, die uns vorgegaukelt wird. Tatsächlich erhöht nur die Abschaffung der Mittelstreckenwaffen und des Projekts zur Entwicklung europäischer Waffen unsere Sicherheit. Dazu brauchen wir, das ist unsere wichtigste Alternative, Verhandlungen. So, wie es Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 gelungen ist, den INF-Vertrag zu vereinbaren. Dieser Vertrag führte binnen weniger Jahre zur Verschrottung sämtlicher landgestützten Mittelstreckenwaffen in Westeuropa und den Staaten des Warschauer Vertrags.
Ich komme zum Schluss. Liebe Freundinnen und Freunde, die Mittelstreckenwaffen sind der gefährlichste Bestandteil einer Aufrüstung, die wir ablehnen. Wir wollen nicht den weltweit viertgrößten Rüstungsetat haben, einen Rang, den Deutschland schon letztes Jahr bei erst 1,9% vom Bruttoinlandsprodukt einnahm, was das eigene Machtinteresse der Bundesregierung widerspiegelt. Zu fordern ist stattdessen die Einführung einer sozialen Verteidigung. Das ist unsere zweite Alternative. Die Vorbereitung auf diese Nichtzusammenarbeit mit einem Aggressor einschließlich zivilen Ungehorsams wäre deutlich effektiver und kostengünstiger als dieses Aufrüstungsprogramm. Erforderlich ist auch ein grundlegendes Umdenken in der Sicherheitsstrategie. Da kommt das Szenario Europas Rolle für den Frieden in der Welt von Sicherheit neu denken wie gerufen als positive Alternative, ohne Aufrüstung. Es zeigt auf, wie wir in Europa eine nachhaltige Friedensordnung schaffen, die im Sinne gemeinsamer Sicherheit unterschiedliche Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Und es thematisiert, was die EU zur Überwindung des imperialen Dominanzstrebens von Russland, China und den USA beitragen kann.