Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen Mainz-Wiesbaden

Stimme aus der Ukraine

beim Hiroshima-Gedenken am 6. August 2022 in Mainz

Redebeitrag von Gernot Lennert, Landesgeschäftsführer DFG-VK Rheinland-Pfalz

Ich möchte hier eine Stimme aus der Ukraine zu Gehör bringen, dem Land, das gerade unter einem Angriffskrieg leidet, der durch Atomwaffen ermöglicht wird, die Stimme von Jurij Scheljashenko (Юрій Шеляженко), Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, der Український Рух Пацифістів, der ukrainischen Partnerorganisation der DFG-VK. Er hat gestern an Videokonferenzen in New York und Hiroshima teilgenommen.

Die Texte seiner drei Konferenz-Beiträge sind hier dokumentiert:
National Security Has Nothing To Do With Nuclear Weapons

Einen seiner Video-Vorträge begann er mit den Worten:
„Unsere Regierung hat allen Männern im Alter von 18 bis 60 verboten, die Ukraine zu verlassen. Es ist die Durchsetzung einer harten militärischen Mobilisierungspolitik, viele Leute nennen es Leibeigenschaft, aber Präsident Selenskyj weigert sich, sie aufzuheben, trotz vieler Petitionen. Also entschuldige ich mich dafür, dass ich nicht persönlich zu Ihnen kommen kann.“

Hier nun Auszüge aus einem seiner anderen Vorträge

Liebe Freunde, Grüße aus Kyjiw, der Hauptstadt der Ukraine.

Manche Leute könnten sagen, dass ich am falschen Ort lebe, um mich für die Abschaffung von Atom- und Wasserstoffbomben einzusetzen. In der Welt des rücksichtslosen Wettrüstens hört man häufig diese Argumentation: Die Ukraine habe die Atomwaffen abgeschafft und sei angegriffen worden, daher sei die Aufgabe der Atomwaffen ein Fehler gewesen. Ich glaube nicht, denn der Besitz von Atomwaffen birgt ein hohes Risiko, in einen Atomkrieg verwickelt zu werden.

Als Russland die Ukraine überfiel, flogen seine Raketen mit schrecklichem Dröhnen in die Nähe meines Hauses und explodierten in einer Entfernung von mehreren Kilometern; Ich lebe noch während des konventionellen Krieges und habe mehr Glück als Tausende von Landsleuten; aber ich bezweifle, dass ich eine Atombombe auf meine Stadt überleben könnte. Wie Sie wissen, verbrennt sie im Zentrum der Explosion in einem Moment menschliches Fleisch zu Staub und macht ein großes Gebiet in der Umgebung … unbewohnbar.

Die bloße Tatsache, Atomwaffen zu haben, verhindert keinen Krieg, wie wir am Beispiel von Indien und Pakistan sehen. Deshalb ist das Ziel der allgemeinen und vollständigen nuklearen Abrüstung eine allgemein anerkannte Norm des Völkerrechts im Rahmen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, und deshalb wurde die Abschaffung des ukrainischen Atomwaffenarsenals, das drittgrößte der Welt nach Russland und den Vereinigten Staaten, 1994 weltweit als historischer Beitrag zum Weltfrieden und zur Weltsicherheit gefeiert.

Auch große Atommächte haben nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Hausaufgaben für die nukleare Abrüstung gemacht. In den 1980er Jahren war der Gesamtvorrat an Atomwaffen, die unseren Planeten mit Armageddon bedrohten, fünfmal größer als heute. … Der Vertrag über die Reduzierung strategischer Waffen oder START I … führte zur Entfernung von etwa 80 % aller strategischen Atomwaffen in der Welt. (…)

Aber jetzt sehen wir, dass unsere Hoffnungen auf historischen Wandel verfrüht waren. Ein neues Wettrüsten begann, als Russland die NATO-Erweiterung und die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa als Bedrohung wahrnahm und mit der Produktion von Hyperschallraketen reagierte. (…)

Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges eskalierte der globale Ost-West-Konflikt vom wirtschaftlichen zum militärischen Kampf um Einflusssphären zwischen den USA und Russland. Mein Land wurde in diesem großen Machtkampf zerrissen. Beide Großmächte haben Strategien, die es ermöglichen, taktische Atomwaffen einzusetzen. Wenn sie damit fortfahren, könnten Millionen von Menschen sterben.

Selbst der konventioneller Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat bereits mehr als 50.000 Menschen das Leben gekostet, mehr als 8.000 davon Zivilisten, und als der UN-Hochkommissar für Menschenrechte kürzlich die unbequeme Wahrheit über Kriegsverbrechen auf beiden Seiten enthüllte, protestierten die Kriegführenden im Chor gegen diesen Mangel Respekt vor ihren angeblich heldenhaften Kreuzzügen. Amnesty International wird ständig von beiden Seiten des Ukraine-Russland-Konflikts schikaniert, weil es Menschenrechtsverletzungen aufdeckt. Es ist die reine und einfache Wahrheit: Krieg verletzt die Menschenrechte. (…)

Im Namen der Menschlichkeit sollten alle Kriegführenden das humanitäre Völkerrecht und die UN-Charta einhalten und sich maximal um eine friedliche Beilegung ihrer Streitigkeiten bemühen. Das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung angesichts der russischen Aggression hebt nicht die Verpflichtung auf, einen friedlichen Weg aus dem Blutvergießen zu suchen, und es gibt gewaltfreie Alternativen zur militärischen Selbstverteidigung, die ernsthaft in Betracht gezogen werden sollten.

Während die nuklearen Sprengköpfe alles Leben auf unserem Planeten zu töten drohen, kann sich niemand sicher fühlen. Daher erfordert die gemeinsame Sicherheit der Menschheit die vollständige Beseitigung dieser Bedrohung unseres Überlebens. Alle vernünftigen Menschen auf der Welt sollten den 2021 in Kraft getretenen Atomwaffenverbotsvertrag unterstützen, aber stattdessen hören wir von den 5 offiziellen Atommächten, dass sie sich weigern, die neue Norm des Völkerrechts anzuerkennen. (…)

Wir sollten der Tyrannei der Atomwaffen nicht erliegen, es wäre eine Schande für die Menschheit und eine Respektlosigkeit gegenüber den Leiden der Hibakusha. (…)

Die Völker der Welt haben sich der nuklearen Abrüstung verschrieben, und auch die Ukraine hat sich in der Souveränitätserklärung von 1990 zur nuklearen Abrüstung verpflichtet, als die Erinnerung an Tschernobyl ein frischer Schmerz war, also sollten unsere Führer diese Verpflichtungen respektieren, anstatt sie zu untergraben …

Aber täuschen Sie sich nicht, wir könnten Atomwaffen und Kriege nicht ohne große Veränderungen in unseren Gesellschaften abschaffen…. Bisher tolerierten wir gewalttätige Regierungen und militarisierte Grenzen, die uns trennten, aber eines Tages müssen wir diese Einstellung ändern, andernfalls wird das Kriegssystem bestehen bleiben und immer drohen, einen Atomkrieg zu verursachen. Wir müssen in Dutzenden aktuellen Kriegen auf der ganzen Welt, einschließlich des Krieges in der Ukraine, für einen universellen Waffenstillstand eintreten. Wir brauchen ernsthafte und umfassende Friedensgespräche, um eine Aussöhnung nicht nur zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch zwischen Ost und West zu erreichen. (…)

Wir sollten die Kriegsmaschine stoppen. Wir sollten jetzt handeln, laut die Wahrheit sagen, die Schuld nicht in trügerischen Feindbildern suchen, sondern im politischen und wirtschaftlichen System des nuklearen Militarismus, die Menschen über die Grundlagen des Friedens und des gewaltfreien Handelns aufklären, unser Recht wahren, das Töten zu verweigern, Kriegen mit einer Vielzahl bekannter friedlicher Methoden widerstehen und alle Kriege beenden …

Lasst uns Atomwaffen abschaffen und gemeinsam Frieden auf der Erde schaffen!"

So weit Jurij Scheljashenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, der Український Рух Пацифістів.

National Security Has Nothing To Do With Nuclear Weapons
Drei Texte von Jurij Scheljashenko ungekürzt

Schluss mit der politisch motivierten Verfolgung Ruslan Kozabas!

Einige hier erinnern sich noch an die Mahnwachen vor dem ukrainischen Honorarkonsulat in Mainz gegen die seit 2015 andauernde politische Verfolgung des ukrainischen Pazifisten Ruslan Kozaba. Er hatte 2015 in einem Video den Krieg im Donbas verurteilt und zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen und wurde wegen wegen Landesverrats und Behinderung der Tätigkeit der Streitkräfte zu 3 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. Nach 16 Monaten im Gefängnis und einer internationalen Solidaritätskampagne wurde er freigesprochen und freigelassen, doch dann wieder angeklagt, mit immer wieder neuen Prozessterminen.

Man könnte annehmen, dass der ukrainische Staat all seine Ressourcen benötigt, um sich mit dem brutalen russischen Angriffskrieg und seinen grauenhaften Folgen zu befassen. Aber die ukrainische Justiz, die eigentlich mit der Aufklärung der ungeheuerlichen Kriegsverbrechnen mehr als ausgelastet sein sollte, verfolgt Ruslan Kozaba wegen einer pazifistischen Meinungsäußerung von 2015. Der nächste Prozesstermin ist der 14. September, mit etwaiger Fortsetzung am 28. September. Da die Staatsanwaltschaft nun auf viele der 58 Zeugen verzichtet, ist ein baldiges Urteil möglich. Es heißt, die Ukraine verteidige westliche Werte. Die Meinungsfreiheit verteidigt sie nicht.

Wir fordern: Schluss mit der politisch motivierten Verfolgung Ruslan Kozabas!

Stattdessen: Aufklärung dessen, was gewöhnlich als Kriegsverbrechen bezeichnet wird, wobei der Krieg an sich, besonders ein so eindeutiger Angriffskrieg, schon ein einziges gigantisches Verbrechen ist.

Letztes Update: 25.08.2022, 08:47 Uhr